Der Himmel ist bewölkt, es ist ein grauer Sonnenaufgang. Je näher wir der Grenze kommen, desto verfallener und verlassener ist unsere Umgebung. Das Grenzdorf gleicht einer Geisterstadt. Langsam bewegen wir uns über einen schlammigen Weg, bis wir vor dem ersten Schlagbaum halten. Überall huschen Gestalten im Dämmerlicht hin und her, alles wirkt zwielicht und irreal. Wir reihen uns vor einer kleinen Bude ein, in der die Pässe gestempelt werden, müssen uns jedoch stets gegen dreiste Vordrängler verteidigen. Auf einer Holzbank neben uns uns sitzt ein Polizeibeamter, der uns anschließend mürrisch zu sich winkt. Er schnappt sich unsere Pässe und notiert auf klassisch träge Art in einer überdimensionierten Kladde unsere Daten. Dann verlangt er Geld. Als wir mehrfach verneinen, wird uns auf unfreundliche Art klargemacht, dass wir unsere Pässe nicht wiederbekommen werden. Erstmal weiter zum Zoll, wo uns immerhin recht unproblematisch das Carnet gestempelt wird. Zurück zu unserem korrupten Freund und wortloses Aussitzen.
Auf nigerianischer Seite sitzen wir schließlich einem etwas prolligen Beamten gegenüber, der jedoch schnell versteht, dass es bei uns nichts zu holen gibt: Wir sind verdreckt, verschwitzt und haben nicht mal einen eigenen Kugelschreiber. Weiter zum Zoll, Stempel holen, ab ins Auto. Ein Mann macht aggressive Gesten und klopft ans Fenster, daraufhin warnt uns einer der Zollmitarbeiter mit Händen und Füßen, dass wir dieses bloß nicht öffnen sollen. Schnell passieren wir den letzten Schlagbaum. Auf den 200 Metern von der Grenze zur Hauptstraße stehen auf einmal eine ganze Reihe Männer auf der Straße, ohne Uniform und ausgerüstet mit rollbaren Nagelbrettern und Holzknüppeln. Sie gehen auf uns zu, klopfen mit ihren Schlägern leicht an unser Auto und machen irgendwelche Zeichen, die wir nicht verstehen. Wir beschließen einstimmig, langsam weiterzufahren und bahnen uns wie bei einem Spießrutenlauf im Schrittempo durch die Menge. In der Tat passiert nichts.
Die Hauptstraße nach Lagos ist vierspurig und ihr Zustand in Ordnung. Alle paar Kilometer werden wir von schwer bewaffneten Polizisten und Anti-Terror Einheiten angehalten. Überraschenderweise sind jedoch all unsere Begegnungen freundlich, heißen uns in ihrem Land willkommen und wünschen uns einen schönen Aufenthalt – das völlige Gegenteil von dem, was uns zuvor erzählt wurde. Mehr als wahr stellen sich allerdings die Warnungen vor den nigerianischen Autofahrern heraus. Sie fahren völlig wild und unvorausschauend, und stellen für unachtsame Fahrer eine absolute Lebensgefahr dar.
Über drei Ecken haben wir einen Kontakt in Lagos, der sich im Norden der Stadt befindet. Da unser Highway entlang der Küste direkt in die südlichen Stadtteile führt, wittern wir eine Abkürzung in der Abzweigung auf eine nördlichere Parallelstraße. Ein schwerer Fehler. Innerhalb weniger Minuten befinden wir uns auf einer der schlechtesten Straßen unserer bisherigen Reise. Das, was einmal Asphalt war ist absolut unbefahrbar, links und rechts davon folgen wir den Spuren im Schlamm. Für die letzten 20 Kilometer in die Stadt benötigen wir 2 Stunden. Dann sind wir da – In Lagos, der größten Megametropole des afrikanischen Kontinents.
Nach wiederum stundenlanger Suche finden wir schließlich die richtige Adresse und stehen vor einer großen Halle inmitten eines Industrieviertels. Dort werden wir von Jonathan, unserem Kontakt, begrüßt. Er führt uns in ein großes, offenes Büro, in dem an einer Vielzahl von Rechnern eifrig gearbeitet wird. Nach und nach stellt sich heraus, dass wir uns gerade in der Zentrale des größten Projekts von Rocket Internet in Afrika befinden: Jumia, dem nigerianischen Amazon.com.
Rocket Internet ist ein deutsches Investmentunternehmen, gegründet von den Brüdern Marc, Oliver und Alexander Samwer. Eine ihrer Hauptaktivitäten ist es, erfolgreiche Geschäftsmodelle aus den USA in Schwellen- und aufstrebenden Entwicklungsländern umzusetzen um dort durch den frühen – natürlich auch absolut risikobehafteten – Einstieg schnell Marktführer zu werden.
Jonathan gibt uns eine Führung und erzählt uns einiges über Jumia, für das er selbst im Management arbeitet. Interessant ist etwa, dass Jumia im Gegensatz zu Amazon eigene Fahrer einsetzt um die gekauften Waren auszuliefern. Allerdings ist es ein großes Problem, dass es in vielen Bezirken kaum so etwas wie Hausnummern gibt und daher Lieferadressen beim ersten Mal oft nicht gefunden werden. Aufgrund der Kaufkraft und der Infrastruktur beschränkt sich Jumia derzeit ausschließlich auf Lagos und – in naher Zukunft – Abuja. Ein nettes Detail: Der Großteil der Angestellten ist afrikanischer Herkunft, und so kommt es vor, dass nach Feierabend im Büro oft laut Musik gespielt und getanzt wird.
Die folgenden Tage verbringen wir im Apartement-Komplex des nigerianischen Rocket-Teams in Victoria Island, einem reichen Wohnviertel im Süden von Lagos. Wir treffen eine international bunt gemischte Gruppe, bestehend aus den Managern von carmudi (Marktplatz für Autos), hellofood (Fast Food Lieferservice), Jovago (Hotelreservierungen), kaymu (Auktionshaus) und Lamudi (Marktplatz für Immobilien). Sie alle arbeiten als Expats – eine Bezeichnung für ausländische Fachkräfte – in einer Position, welche in Europa kaum so schnell erreichbar wäre. Gleichzeitig bringt die große Verantwortung einen hohen Arbeitsaufwand mit sich. Dieser wird jedoch einstimmig von den gesammelten Erfahrungen und dem Freiraum, ein Geschäftsmodell nach eigener Vorstellung umzusetzen, mehr als aufgewogen. Highlights während unserer Zeit beim Rocket Team sind ein gemeinsames Barbecue sowie ein Nachmittag an einem der zahlreichen Strände bei Lagos – inklusive Delphinsichtung.
Tagsüber sind wir, wie gehabt, in eigener Sache in Lagos unterwegs und besuchen den Co-Creation Hub. Tunji, Manager des Hubs, erzählt uns die Geschichte von den zwei Gründern und ihrer Vision, an diesem Ort Menschen mit einer Leidenschaft für Technologie zusammenzubringen. Heute handelt es sich um einen Austragungsort für Events, Showcases, Seminare und Hackathons, sowie einen Open Work Space samt Inkubator für Neugründungen sowie junge Unternehmen, die wachsen möchten.
Wir unterhalten uns mit den Gründern einer Reihe interessanter Startups:
– Topup Genie: Aufladen des Handyguthabens allein durch das Wählen einer festen Nummer (In vielen Ländern Afrikas ist es üblich, Guthaben Als Scratch-Card auf der Straße zu kaufen)
– Chop Up: Social Gaming für Smartphones
– Church Plus: Management-Software für Kirchen
– Prep Class: Vorbereitung auf Prüfungen
Zuletzt treffen wir das Team von WeCyclers, ein Startup welches sich zum Ziel gesetzt hat, den Plastikmüll auf den Straßen von Lagos zu reduzieren. Ihr Ansatz ist Gamification: Haushalte sammeln eigenständig recyclebare Abfälle und erhalten Punkte abhängig vom Gewicht. Diese können im Anschluss gegen Geld oder Gegenstände eingelöst werden. Das Recyclingmaterial – seit dem Beginn im August 2012 insgesamt 850 Tonnen PET Flaschen und 100 Tonnen Plastiktüten – wird von einem Team von Radfahrern abgeholt. Diese sind mit einer speziellen Konstruktion ausgestattet, um die verschiedenen Wertstoffe getrennt voneinander zu transportieren. Wir erhalten einen privaten Vortrag im Konferenzraum, dann nimmt uns das Gründerteam mit in die eigene Werkshalle. Dort werden die Abfälle gelagert, ein letztes Mal sortiert, dann geschreddert und anschließend an Abnehmer in Nigeria verkauft.
Ein weiterer Ausflug führt uns in ein Industriegebiet westlich von Lagos, wo wir Sajil treffen, ebenfalls ein indischer Freund von Philipp aus seiner Praktikumszeit in Ghana. Er führt uns durch eine Fabrik für Maschendrahtzaun, Stacheldraht, Nägel und Metallstangen, für die er als Manager arbeitet. Auf unserem Rückweg nach Lagos nehmen wir eine Route entlang der Südseite von Victoria Island, wo wir Zeugen des derzeit laufenden Mammutprojekts „Eko Atlantic“ werden: Durch das Aufschütten von Sand wird ein 10 Quadratkilometer großes Stadtviertel erschaffen. Ein Projekt der Superlative, soll der neue Stadtteil sowohl Finanzzentrum Afrikas werden, als auch ein hochmodernes, sauberes und nachhaltiges Wohnviertel für 250.000 Menschen. Wem dieses Vorhaben zugute kommt, ist natürlich eine andere Frage…
Nach einem langen Aufenthalt in Lagos wollen wir nun wieder schneller vorwärts kommen. Wir brechen früh morgens auf in Richtung Calabar, einer Stadt nahe der Grenze zu Kamerun im Osten Nigerias, in etwa 1000 Kilometer entfernt von Lagos. Einige Staus werfen uns zeitlich zurück, und so entscheiden wir uns, eine Abkürzung durch den Süden zu nehmen. Von der Strecke wurde uns zuvor abgeraten, da sie die Provinz um das Nigerdelta durchquert – eine Region, welche durch den langjährigen Ölkonflikt geprägt ist. Auf Nachfrage bei mehreren nigerianischen Wegbekanntschaften, inklusive Militär- und Polizeikontrollen, wird uns jedoch versichert, dass die Route völlig unproblematisch sei. Das stimmt soweit, doch wartet zunächst wieder eine ganze Reihe anderer Herausforderungen auf uns: Piste – Schlammpiste – Überschwemmte Schlammpiste. Die Anwohner sind pfiffig: Wo der Weg nicht passierbar ist, wird für einen verhandelbarn Obolus der eigene Hinterhof zur Umfahrung des Wassers angeboten.
Kurz vor Mitternacht erreichen wir Calabar. Noch immer ist die Stadt belebt, die perfekt ausgebauten Straßen – teils sogar szenische Alleen – sowie die Vielzahl an Hotels, Bars und Restaurants lassen auf schwarze Zahlen schließen. Woher das Geld kommt, erfahren wir am nächsten Tag beim Gespräch mit ein paar Studenten: Vor einigen Jahrzehnten wurde begonnen den lokalen Tourismus zu fördern, offenbar erfolgreich: Obgleich international kaum bekannt, ist Calabar der Nr. 1 Urlaubsort für Nigerianer.
Das Visum für Kamerun ist schnell organisiert, und nach mehreren Anläufen aufgrund unter Wasser stehender Straßen nähern wir uns schließlich der Grenze. Es ist schon dunkel, der Weg denkbar schlecht und so schlagen wir uns alsbald irgendwo in den Busch und übernachten. Wir befinden uns erneut mitten im Nirgendwo, tief im Herzen des Regenwalds.