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Freetown – laut, chaotisch und unglaublich symphatisch



Als wir am späten Nachmittag in Freetown ankommen, sind wir schnell begeistert vom Charme der Stadt – auch wenn diese während der Stoßzeiten mit dem Auto kaum befahrbar ist, und uns aufgrund eines fragwürdigen Wendemanövers von einem aufgebrachten Polizisten Arrest angedroht wird. Die Stadt befindet sich an der Nordspitze einer Halbinsel am Atlantik. Gen Süden blickt man auf leichte Gebirgszüge, von denen sich der tropische Regenwald teils bis zu den Sandstränden an der Küste im Norden erstreckt. Zwischen Festland und Halbinsel befinden sich teils Wasser, teils sumpfige Mangrovenwälder. Die Straßen sind gefüllt von kleinen Läden, Werkstätten und Ständen, stets mit bunten, selbstgemalten Unternehmensschildern.

Schnell machen wir die liberianische Botschaft ausfindig, in der wir trotz der späten Uhrzeit noch empfangen werden. Unser einziges Problem: Wir haben kein Geld und unser Tank ist leer. Als wir feststellen, dass sämtliche Geldautomaten entweder keinen Strom haben oder kein VISA akzeptieren, beginnt im wahrsten Sinne ein Bankenmarathon, den wir mit Geduld und Ausdauer erfolgreich meistern. Abheben, Tanken, zurück zur Botschaft. Dort bekommen wir – wir können es kaum glauben – direkt unser Visum.

Wir kommen im Gästehaus des St. Edwards College unter, einer katholischen Schule, welche – wie wir später erfahren – zu den besten des Landes gehört. In der näheren Umgebung gibt es viele einfache Restaurants, Bars und Straßenstände. Am meisten jedoch sind wir angetan von Prince, einem Sandwichverkäufer um die Ecke. Wir sind begeistert von dem, was er aus der Kombination von britischem Weißbrot, Mayonnaise, Maggi, Zwiebeln und Ei zaubert und werden in den Folgetagen zu seinen Stammkunden. Er erzählt uns von seiner eigentlichen Leidenschaft: Als Fußballtrainer in seiner Community gibt er Jugendlichen die Möglichkeit, als Team ihrem Hobby nachzugehen. Um die Mannschaft und das notwendige Zubehör zu finanzieren, stellt er sich täglich mit Schürze und Kochmütze hinter seinen Sandwichstand. Wir bekommen Fotos vergangener Turniere gezeigt und werden kurzerhand zum nächsten Spiel seiner Mannschaft eingeladen.

Einer unserer ersten Termine in Freetown ist das Human Rights Film Festival, der Beiname „Opin Yu Yi“ steht in der lokalen Sprache für „Open Your Eyes“. Austragungsort ist das Atlantic Beach, ein schickes Lokal direkt an einem der weitläufigen Strände im Nordwesten der Stadt. Ähnlich wie in Dakar werden diese ausgiebig für Sport genutzt, unzählige junge Menschen joggen oder spielen Fußball. Im Atlantic Beach sind erstaunlich viele Engländer anwesend, wie wir später lernen aufgrund der vielen englischen Volunteers und Helfer. Wir lernen den Festival-Organisator Idriss kennen, der uns freundlich Hintergrundinformationen zu der Veranstaltung gibt. Nach positiver Resonanz in den letzten Jahren findet das Festival dieses Jahr zum dritten Mal statt. Es werden lokale Produktionen, wie etwa ein Kurzfilm über die Straßenbanden von Freetown, sowie ein packender Film über eine politische Bewegung in Angola gezeigt.

Der nächste Termin ist ebenfalls abends, und so begeben wir uns tagsüber auf eine Tour durch die verschiedenen Stadtviertel. Es geht vorbei am Cotton Tree, einem Baum der mindestens seit 1792 im Zentrum Freetowns steht und das Wahrzeichen der Stadt ist, behangen von unzähligen Fledermäusen (oder Flughunden?). Schließlich verlaufen wir uns im wilden Trubel des Marktgeschehens. Halb zerdrückt, aber begeistert von der Stimmung, begeben wir uns auf die Suche nach einem Ort, um das Ganze von oben zu sehen. Nach mehreren Anläufen stehen wir vor dem höchsten Gebäude, was wir in unserer Umgebung finden. Das nach außen offene Erdgeschoss ist eine Spielhölle, ausgerüstet mit älteren Playstations, Kicker- und Billardtischen, überall wettstreiten junge Leute. Durch den geringen Altersunterschied ist das Eis schnell gebrochen und wir werden, begleitet von mehr und mehr Kindern und Jugendlichen, durch das Treppenhaus nach oben geführt. Schon nach wenigen Metern ist es stockdunkel, die Treppe nicht mal einen Meter breit und ohne Geländer. Wir bewegen uns vorbei an Vorhängen, hinter denen sich Wohnungsflure befinden und erreichen schnell das oberste Stockwerk. Erstaunt blicken wir auf eine Menschenmenge hinter einem der Vorhänge, welche gebannt auf eine Leinwand starrt – ein Kino! Wir sind begeistert, denn das hätten wir hier nicht erwartet. Eine Treppe höher durchqueren wir noch ein Zimmer, klettern auf den Balkon und steigen eine klapprige Holzleiter empor, auf den höchsten Punkt des – merklich schwankenden – Gebäudes. Die Aussicht ist unbeschreiblich: uns eröffnet sich eine einzigartige Sicht auf die Berge im Süden, die gewundenen Küstenstreifen und das Meer im Norden sowie Freetown in perfekter Lage dazwischen. Im Westen geht die Sonne unter. Direkt verabreden wir uns für morgen, denn wir beschließen, hier unser Interview für das Crowdfunding Video zu drehen.

Abends werden wir von Mahmoud im Auto abholt, natürlich vergessen wir unsere Kamera. Zusammen mit David Sengeh vom MIT hat er das Projekt „Innovate Salone“ ins Leben gerufen, welches darauf abzielt, kreative Schulkinder zu fördern. In regelmäßigen Veranstaltungen stellen diese ihre Ideen zur Verbesserung der Situation in ihrer Community vor. Die besten Einfälle werden mit einem Startkapital von 500 US-Dollar belohnt. Musterbeispiel ist der mittlerweile international bekannte Kelvin Doe, der sich mit 15 Jahren aus Elektronikschrott seine eigene Radiostation aufgebaut hat. Als DJ Focus sorgt er nicht nur für Unterhaltung, sondern ermöglicht seiner Gemeinde, Werbung für lokale Veranstaltungen, wie etwa Märkte oder Fußballturniere zu machen. Weitere Projekte von Schülern bzw. Ehemaligen sind ein Windgenerator, eine automatische Wasserpumpe sowie das Sammeln, Zerkleinern und anschließende Verkaufen von Glasscherben zur Wiederverarbeitung. Letzteres musste aufgrund mangelnder Finanzierung vorerst auf Eis gelegt werden, Edmond – der Initiator – startet dafür jedoch gerade mit der Internetseite GoShop.sl durchaus erfolgreich das afrikanische Amazon. Wir bekommen seine Nummer.

Am Montag geht es früh morgens zur ghanaischen Botschaft. Im Gegensatz zum liberianischen Pendant begegnet man uns hier weniger kooperativ und wir werden mit der Begründung abgewiesen, dass wir keine sierra-leonischen Staatsbürger sind. Weiter geht es zur Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit. Wir bekommen wir interessante Hintergrundinformation zur jüngsten Entwicklung des Landes und werden David vorgestellt, einem sierra-leonischen Unternehmer, der nebenbei für die GIZ die IT-Integration abwickelt. Angefangen hat er mit einem Kredit eines Bekannten, mit dem er sich zunächst ein gebrauchtes Auto kaufte. Dies vermietete er und finanzierte mit den Einnahmen bald ein zweites und drittes Fahrzeug. Neben der Autovermietung, zu deren Kunden mittlerweile auch größere Unternehmen zählen, vermietet er zudem Häuser und betreibt IT Beratung – Programmieren lernte er in Ausbildungsseminaren für Informatiklehrer. Wir lauschen gespannt seiner Erfolgsstory made in Africa, zu der allerdings auch einige persönliche Konflikte gehören: So sieht sich David der Frage gegenübergestellt, ob er sein Geld in das Wachstum seines Unternehmens investiert, oder der Forderung seiner Familie nachkommt, diese finanziell zu unterstützen.

Unser nächster Tagespunkt ist die Haupt-Aufnahme für unser Crowdfunding Videos. Erneut schlängeln wir uns vorbei an umherhuschenden Gestalten im dunklen Treppenhaus und werden von Sorie, dessen Zimmer wir bereits gestern in Richtung Balkon durchqueren mussten, fröhlich begrüßt. Auf dem Dach platzieren wir unser Equipment und nehmen mehrere Sequenzen für unsere eigene Vorstellung auf – in der Hoffnung, währenddessen nicht in der improvisierten Betondecke einzubrechen. Während der anschließenden Luftaufnahmen schießt uns plötzlich der Adrenalinspiegel in die Höhe: Wir werden von der ganzen Stadt beobachtet, alle Menschen in einem Kilometer Umkreis schauen zu uns nach oben. Ohne groß darüber nachzudenken, packen wir schnellstmöglich unsere Sachen, verabschieden uns von unserem Gastgeber und verschwinden – das Risiko, welches zu viel Aufmerksamkeit hier mit sich bringt, ist uns zu hoch. Durch die bereits einsetzende Dämmerung laufen wir samt Equipment zum Auto, parken auf unserem Stellplatz und kommen erst wieder bei einem Sandwich von unserem Freund Prince wieder zur Ruhe.

Dienstag ist ein Tag der besonderen Art. Es klingt alles ganz einfach: Treffen mit Edmond von GoShop.sl um 15:00, Freundschaftsspiel der Fußballmannschaft von Prince um 16:30, Vormittags um 09:00 brechen wir noch schnell auf zu zwei Spontanbesuchen. Natürlich kommt alles anders, als geplant…

Wir verfahren uns und landen am Eingangstor des Hafens, bewacht wie eine Festung. Wir folgen der Aufforderung umzudrehen, machen jedoch den Fehler – der Blick auf Freetown von hier ist genial – noch schnell ein Foto zu schießen. Schreiend und gestikulierend eilen Hafenmitarbeiter, Soldaten und Polizisten auf uns zu und beordern uns zur nächsten Polizeistation. Uns stehe Arrest bevor. Rund zehn Menschen reden auf uns ein, es dauert mehrere Minuten bis uns überhaupt zugehört wird. Dann erzählen wir unsere Geschichte. Nach und nach beruhigen sich die Gemüter. Nach mehreren Fragen zu unserem Auto und unserer Reise wird uns letztendlich freundlich der Weg zu unserem eigentlichen Ziel erklärt, dann verabschieden wir uns.

Als ob das vorige Erlebnis nicht genug wäre, wird die laut Wegbeschreibung korrekte Straße plötzlich zu einer bis zum Bersten gefüllten Marktgasse. Wenden ist ausgeschlossen, überall um uns herum sind Menschen, Körbe, Stände und Karren, hinter uns wird laut gehupt. Uns bleibt nichts anderes übrig, als uns Zentimeterweise durch die Massen zu bahnen. Hastig weichen uns Menschen aus, räumen ihre Waren von der Straße und stellen diese hinter uns wieder hin, nur um dieselbe Prozedur für jedes weitere Auto zu wiederholen. Dann das Highlight: Rechts vor uns steht ein LKW inmitten der Menge, links vor uns liegen auf einer Plane von mehreren Metern Länge ein Haufen Fische – unmöglich, diese so schnell wegzuräumen. Wir verstehen zunächst nicht recht, als immer mehr Leute in Richtung der Fische zeigen. Dann setzen wir uns in Bewegung, und tatsächlich: als wäre es das Normalste der Welt, schaut uns der Händler dabei zu, wie wir sowie unsere Nachfolger einfach über seine Fische hinweg fahren – der Haufen ist perfekt an die Spurweite angepasst und die Fische überleben die Aktion unbeschadet, jedoch vermutlich leicht geräuchert. Nach mehr als einer Stunde sind wir am Ende des Marktes angelangt.

Als nächstes bekommen wir während des Mittagessens an der Straße eine Kralle ans Rad. Die Anschuldigungen: Parken im Abstand von weniger als 25 Fuß an einer Kreuzung, im Halteverbot. Erstere entlarven wir schnell als falsch, weiterhin ist vom vermeintlichen Parkverbotsschild nur noch die Stange übrig. Die Strafe von 30€ sei bei der nächsten Bank zu zahlen, nach einer anschließenden telefonischen Bestätigung komme der zuständige Mitarbeiter, um die Kralle zu entfernen. Wir sehen das Ganze nicht ein, allerdings gibt es niemand zuständigen, dem wir unsere Lage schildern können. Also statten wir mehreren Polizeistationen einen Besuch ab. Zwei Stunden, viel Nerven und 15€ später wird uns die Wegfahrsperre entfernt.

Verspätet treffen wir im Büro von Edmond ein, Gründer von GoShop.sl. Er baut mit seiner Homepage eine Plattform für den Interneteinkauf und ist damit der erste Anbieter dieser Art in Sierra Leone. Die Bestellungen werden speziell mit Geschäftspartner in Großbritannien und den USA abgewickelt – derzeit noch Orderbasiert, ein Lager ist jedoch in Planung. Wir lernen, dass beispielsweise Elektrogeräte in Sierra Leone ungemein teuer sind. Die wenigen Importeure verlangen oft horrende Preise, der Einkauf in europäischen oder amerikanischen Portalen scheitert an mangelnder Akzeptanz afrikanischer Kreditkarten. Das Geschäftsmodell von GoShop.sl basiert daher auf dem Angebot qualitativ hochwertiger Produkte zu transparenten Preisen mit Bezahlung per Handy, wie es in Afrika üblich ist. Ausgeliefert werden die Artikel per angestelltem Fahrer, da die lokale Post nicht zuverlässig genug arbeitet. Da unser Gastgeber gesundheitlich noch etwas angeschlagen ist, verzichten wir auf Foto und Interview und gönnen ihm Erholung.

Im Anschluss besuchen wir wie abgemacht Prince und schauen beim Freundschaftsspiel seiner Mannschaft zu, er selbst agiert als Schiedsrichter. Wir sind sehr angetan über die freundliche Begrüßung und die offenkundige Fußballbegeisterung seiner Jungs. Während des flotten Spiels, das nur durch gelegentlich kreuzende Motorradfahrer unterbrochen wird, können wir unter den Kickern einige Talente ausmachen.

Am nächsten Tag besuchen wir Kelvin Doe alias DJ Focus, welcher durch das unten verlinkte Video international bereits viel Aufmerksamkeit erhielt. Wir treffen ihn an seine Schule und lernen einige Mitglieder des Innovator’s Club kennen, einer von ihm gegründeten Gruppe junger Erfinder. Während einiger Gespräche bekommen wir von den Schülern einen wertvollen Einblick in die jüngste Generation Sierra Leones. Sie möchten eigene Generatoren bauen und Mini-Hubschrauber, jedoch fehlen ihnen grundlegende Materialien sowie Mithelfer. Letzteres liege mitunter an der Schulpolitik: So sei es nicht den Schülern überlassen, sich für Schwerpunkte wie Kunst, Wirtschaft oder Naturwissenschaft zu entscheiden, sondern ihren Eltern. Dabei spielt Geld die ausschlaggebende Rolle: Naturwissenschaft als Schwerpunkt ist der teuerste. Der Blick in die Zukunft erfolgt mit gemischten Gefühlen: Einige äußern, dass sie später sowieso werden wie die „Alten“ und sich nichts ändere, andere sind sich bereits jetzt sicher, ihren Kindern später mehr Freiheiten zu lassen und ihr Land zu verändern.


Nach einer Woche in Freetown haben wir die Stadt in unser Herz geschlossen. Wir fahren an der Küste weiter Richtung Süden und denken zurück an aufgeschlossene, fröhliche Menschen und ein einmaliges Stadtbild zwischen Bergen und Küste. An verstopfte Straßen, gefüllte Märkte und leckere Sandwiches. Und natürlich eine Reihe interessanter Menschen und Erfahrungen.